Saturday, October 20, 2007

wiederbelebungsreinstellung 2007

Thursday, January 12, 2006

ESSAY DIE ZWEITE


In meinem zweiten als Teil dieses Vorlesungstutoriums verfassten Essay beschäftige ich mich auf wenigen Seiten mit den beiden anthropologischen Größen Marcel Mauss und Arnold van Gennep und deren bekanntesten Publikationen – ‚Die Gabe’ (Mauss) und ‚Übergangsriten’ (van Gennep). Ich werde versuchen die beiden ‚Protagonisten’ zeitlich und räumlich einzuordnen, sowie sie in ihrem sozialem Umfeld darzustellen und die Bedeutung ihrer Werke damals bis hin zur Gegenwart zu umreißen.

1. Wann und Wo?

Zeitlich sprechen wir hier von den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, also der Zeit kurz vor, während und knapp nach dem Ersten Weltkrieg. Räumlich bewegen wir uns im frankophonen Raum Europas – Marcel Mauss arbeitet zeitlebens in Paris [1]; Arnold van Gennep ist Belgier, in Deutschland geboren, aufgewachsen in Savoy, arbeitet in Frankreich und der französischen Schweiz [2]. Die französische Anthropologie entwickelt sich als eigenständiges Fach etwa zeitgleich mit anthropologischen Strömungen in Großbritannien, aber unter etwas anderen Voraussetzungen. So ist es in England oft die Regierung, die Anthropologen vereinnahmt, deren Dienste sie im Zuge einer fortschreitenden Kolonialisierung zu schätzen weiß. In Frankreich dagegen spielten Anthropologien nie eine solche Rolle – ein Umstand, der ihnen einerseits ein evtl. vielfältigeres Arbeitsfeld und freieres Forschen gewährleistete, andererseits aber staatliche Zuwendungen und Propaganda versagte [3].

2. Wer?

2.1 Marcel Mauss (1872 – 1950)

Mauss wird als der Sohn von Emile Durkheims älterer Schwester im französischen Epinal geboren. Die Beziehung zu seinem Onkel ist sein Leben lang sehr eng, privat sowie beruflich. Mauss arbeitet und lehrt ausschließlich in Paris – im Weltkrieg wird er an die Front berufen, wo er alle seine Freunde und wissenschaftlichen Kollegen verliert (und Frankreich – wie alle anderen am Krieg beteiligten Länder – viel an geistigem Potential). Mauss wird dargestellt als sehr intelligenter und enthusiastischer Wissenschaftler, der sich darauf versteht Ansätze und Ideen anderer aufzugreifen, zu vernetzen und weiterzuverarbeiten. So scheint es ihm ein Anliegen zu sein, den Nachlass seiner im Krieg gefallenen Zeitgenossen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ebenso stützt er sich in seinem Werk ‚Die Gabe’ auf Feldforschungen anderer oder bemüht sich um eine vertiefende Weitearbeit am Werk seines Onkels Durkheim.[4]
Robert Parkin charakterisiert Mauss folgendermaßen:
„His enthusiasm for his work and his sheer scholarship cannot be in doubt, and his knowledge was truly encyclopedic. Certainly there is an absence of system in his writings overall, though taken seperately each work is clear and coherent enough.” [5]
Angesichts dessen ist die Etablierung der Kultur- und Sozialanthropologie als eigenständige sozialwissenschaftliche Disziplin unter anderem Marcel Mauss und seinen Arbeiten zu verdanken [6].

2.2 Arnold van Gennep (1873 – 1957)

Van Gennep verdankt die Kultur- und Sozialanthropologie ein sehr reichhaltiges und interessantes Forschungsgebiet, nämlich das des Rituals. Arnold van Gennep wird im deutschen Ludwigsburg geboren und wächst nach der Scheidung seiner Eltern bei seiner Mutter in Savoy auf. Anders als Mauss ist er kein Lehrender (von einer kurzen Zeit in der Schweiz abgesehen – dort lehrte er in Neuchâtel von 1912 – 1915). Dank seiner zahlreichen Feldforschungen und einer offensichtlichen Sprachbegabung (er erlernte die wichtigsten Sprachen Europas und deren regionale Dialekte!) sind seine Dienste als Übersetzer sehr gefragt.
Van Genneps Zugang zur Anthropologie erfolgt über die weniger wissenschaftliche Folklore, von der aus er Brücken schlägt zu seiner anthropologischen Arbeit über das Ritual als universelle Institution – besonders konzentriert sich van Gennep auf Übergangsriten (rites de passage). [7]

2.3 Das geistige Umfeld

Die französische Anthropologie des frühen 20. Jahrhunderts ist unumstritten vor allem von der Figur des Emile Durkheim geprägt, somit erlaube ich mir hier auch einige Worte zu ihm zu verlieren. 1858 geboren gilt er als Revolutionär der europäischen Sozialwissenschaften, und die Kultur- und Sozialanthropologie ist nicht die einzige Disziplin, die Anspruch auf Durkheim erhebt – ebenso tut dies z.B. die Soziologie. Durkheim arbeitet in Anlehnung an das von Jean-Jaques Rousseau geprägte Konzept vom ‚Gesellschaftsvertrag’ und geht dabei der Frage nach, was es ist, das als Klebstoff zwischen einzelnen Individuen fungiert und diese so zu einer Gesellschaft mit innerem Zusammenhalt zusammenführt. Arbeitsteilung und damit gegenseitiges aufeinander Angewiesensein führt er dafür in stratifizierten Industriegesellschaften an, Religion sieht er als ausschlaggebend für das funktionierende Zusammenleben in wenig industrialisierten Ländern. Diesen Thesen mag man entgegenhalten oder nicht, unwidersprechlich macht Durkheim jedoch als erster deutlich, dass ein Anthropologe bei seiner wissenschaftlichen Arbeit immer seine eigene Kultur und gesellschaftliche Prägung mitdenken muss.[8]
Der anthropologische Kreis dieser Zeit wird gerne in die Schüler und Anhänger Durkeims sowie dessen Kritiker und bzw. Gegenspieler geteilt. In vorliegendem Fall ist Marcel Mauss natürlich klarerweise ersteren zuzurechnen, Arnold van Gennep hingegen wurde von Durkheim nie akzeptiert und hat diesen auch offen kritisiert.
Wie schon erwähnt verloren einige junge Anthropologen dieser Zeit ihr Leben im Ersten Weltkrieg – anzuführen sind davon vielleicht Robert Herz und Henri Hubert, deren Ansätze im Feld der Religion und Magie von Marcel Mauss später aufgegriffen und weitergeführt wurden [9] – auch in ‚Die Gabe’ verweist Mauss darauf [10].

3. Was?

3.1 Essai sur le don (Die Gabe)
[11]

Im Klappentext meines Exemplars von ‚Die Gabe’ befindet sich ein Zitat von Claude Lévi-Strauss (dem wohl bekanntesten und für die Kultur- und Sozialanthropologie der Gegenwart bedeutendsten Schüler Marcel Mauss’), das Mauss’ Werk als Arbeit
„die wie auf gut Glück amerikanische, indische, keltische, griechische und ozeanische Belege aufzugreifen scheint, immer gleichermaßen beweiskräftig. Kaum einer hat Die Gabe lesen können, ohne die Skala der Empfindungen zu durchlaufen, die Malebranche in Erinnerung an seine erste Descartes-Lektüre so gut beschrieben hat: ‚Unter Herzklopfen, bei brausendem Kopf erfasst den Geist eine noch undefinierbare, aber unabweisbare Gewissheit, bei einem für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis zugegen zu sein.’“ [12]
In diesem berühmten, 1925 veröffentlichten Essay führt Mauss seine Annahmen zur zentralen Frage der Arbeiten seines Onkels Durkheim nach gesellschaftlichem Zusammenhalt aus. Dabei stützt er sich auf Feldforschungen seiner nicht minder bis heute bedeutenden Kollegen Franz Boas und Bronislaw Malinowski. In Mauss’ Augen ist es – in archaischen Gesellschaften - eindeutig das Prinzip von Gabe und Gegengabe, dass Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen herstellt. Durch einen nicht auf materiellen (!) Gewinn ausgerichteten Geschenkeaustausch werden Verpflichtungen geschaffen, deren Einhaltung zu erneuter Verpflichtung führt und so eine dauerhafte Allianz zwischen zwei oder mehreren Parteien gewährleistet wird. Dabei unterscheidet Mauss bei jedem Prozess des Geschenketausch die Verpflichtung zu Geben, die Verpflichtung zu Nehmen und (hier beginnt der eigentliche Kreislauf) die Verpflichtung zu Erwidern. In seinem Werk beschreibt Mauss dazu ausführlich die Praktik des ‚Kula’, einem diffizilen Tauschsystem zwischen Bewohnern verschiedener Inseln des Trobriand-Archipels (basierend auf der Feldforschung Malinowskis) und vergleichend die Institution des ‚Potlatsch’ bei den Kwakiutl in Nordamerika (Feldforschung von Boas) – dabei geht es um die Demonstration von Macht und Status eines Häuptlings und seines Volkes, durch öffentliche ‚Vernichtungsorgien’ materieller Güter (nach dem Prinzip: ‚man kann es sich leisten…’). Nach der Darlegung dieser und anderer Praktiken verfasste Mauss noch ein Kapitel, in welchem er ein „Weiterleben dieser Prinzipien in den alten Rechts- und Wirtschaftsordnungen“ (=Kapitelüberschrift) auszumachen versucht – wieder ein Beweis für seine Fähigkeit Inhalte zu vernetzen und in übergreifenden Dimensionen zu denken.

3.2 Rites de Passage (Übergangsriten)

Van Genneps Meisterwerk erscheint im Jahr 1909 und ist seither präsent, viel zitiert und immer wieder als Referenz genannt. Kernthema des Buches sind Riten/Rituale, deren Universalität van Gennep aufzeigt und sie gleichzeitig als Forschungsfeld in der Kultur- und Sozialanthropologie etabliert. Anders als Mauss kann er auf eigene Feldforschungen zur Untermauerung seiner Thesen zurückgreifen. Rituale werden hier charakterisiert als soziale Phänomene, die jede Gesellschaft kennt um Krisenzeiten und außergewöhnlichen Vorkommnissen im Leben eines Menschen im gesellschaftlichen Rahmen zu begegnen und diese zu bewältigen. In allen Gesellschaften finden sich also determinierte Vorgehensweisen bei Ereignissen wie z.B. Geburt, Pubertät, Heirat, oder Tod. Grundlegend unterscheidet van Gennep bei Ritualen verschiedenster Gesellschaften drei Typen [13]: Rituale zum Anlass von Trennung oder Abschied, Rituale des Wechsels und Rituale zum Zweck der Wiedereingliederung. Gleichzeitig sieht er diese drei Typen auch als Struktur, die jedem einzelnen Ritual immanent ist. Es erfolgt demnach jedes Mal eine Phase der Trennung und des Ablösens vom Ist-Zustand, eine Phase des Übergangs und Wechsels und daraufhin eine Phase der Reintegration und Festsetzung eines neuen Ist-Zustandes – je nach Anlass eines Rituals ist die eine oder andere Phase ausgeprägter zu erkennen, van Gennep besteht jedoch auf stetiges Vorhandensein aller drei Phasen.
Van Genneps Arbeit wird vor allem vom Briten Victor Turner aufgegriffen, der bei den Azande in Afrika forscht und sich vor allem auf Initiationsrituale und dabei auf die Phase des Übergangs konzentriert. Für diesen heiklen Teil eines Rituals prägt er den Begriff der Liminalität (Grenzhaftigkeit) und beschreibt weiters das soziale Phänomen der Kommunitas – der Gruppe von Initianden, die gemeinsam die Phase der Liminalität durchleben und dadurch zu einem neuen und anhaltenden Zusammenhalt untereinander finden. [14]

4. Wie und Wozu?

Sowohl Marcel Mauss als auch Arnold van Gennep werden wie bereits mehrfach erwähnt bis heute als große Anthropologen gehandelt, die viel zur Etablierung unserer Disziplin beigetragen haben und Werke vorlegten, die Gültigkeit und Präsenz bis heute halten. Sie stehen am Beginn einer Phase des Aufschwungs der französischen Kultur- und Sozialanthropologie, die vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine Vorreiterrolle übernimmt. Mehr oder weniger geprägt und beeinflusst wurden beide sicher durch die Figur des Emile Durkheim, beide arbeiten zu Themen, die von Durkheim bereits angesprochen wurden. Dabei ist es klar, dass sich Mauss eher auf die Aussagen seines Onkels stützt und diese in der eigenen Arbeit vertiefend behandelt, van Gennep aber als Kritiker auftritt, der zwar zu ähnlichen bzw. gleichen Themen arbeitet, diese jedoch viel differenzierter und genauer ausführt und das Durkheim entgegenhält.
Van Genneps Arbeiten wohnt bereits ein unübersehbarer strukturalistischer Ansatz inne, vor allem Marcel Mauss ist es aber, der als Bindeglied in der französischen Anthropologie gesehen wird, ist er es doch, der die Arbeit Durkheims aufgreift und vertieft, und gleichzeitig später Lehrer des unbestritten großen Claude Lévi-Strauss ist – so ist die Brücke geschlagen zwischen funktionalistischen Ansätzen, die die teilweise von Durkheim vertreten werden hin zum Strukturalismus in seiner Reinform, wie er von Lévi-Strauss etabliert wird. [15]


Literaturverweise

[1] vgl. Barth, Frederik, et.al.: One Discipline, Four Ways. British, German, French and American Anthropology; University of Chicago Press, 2005:186
[2] vgl. Barth 2005:181
[3] vgl. nichtautorisierte Vorlesungsmitschrift zur Vorlesung „Geschichte der Sozial- und Kulturanthropologie“, André Gingrich, WS 96/97, von Eva-Maria Knoll; 45
[4] vgl. Barth 2005:186ff
[5] Barth 2005:187
[6] vgl. nichtautorisierte Vorlesungsmitschrift zur Vorlesung „Geschichte der Sozial- und Kulturanthropologie“, André Gingrich, WS 96/97, von Eva-Maria Knoll; 45
[7] vgl. Barth 2005:180f
[8] vgl. eigene Vorlesungsmitschrift, „Einführung in die Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie“, André Gingrich, WS 05/06
[9] vgl. Barth 2005:190ff
[10]Mauss, Marcel: Die Gabe, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1999:31
[11] Mauss, 1999
[12] Mauss, 1999:Klappentext
[13] vgl. nichtautorisierte Vorlesungsmitschrift zur Vorlesung „Geschichte der Sozial- und Kulturanthropologie“, André Gingrich, WS 96/97, von Eva-Maria Knoll; 50
[14] vgl. Barth 2005:181
[15] vgl. eigene Vorlesungsmitschrift, „Einführung in die Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie“, André Gingrich, WS 05/06


Anmerkung zu Essays 1 + 2: Da ich davon ausgehe, dass diese Arbeiten vor allem von TuroriumskollegInnen gelesen werden, habe ich es mir gestattet auch aus Vorlesungsmitschriften zu zitieren. Mir ist bewusst, dass dies keine ‚erlaubte’ Praktik bei wissenschaftlichen Arbeiten ist, hier jedoch gehe ich davon aus, dass meine KollegInnen auf eigene Vorlesungsmitschriften zum Vergleich zurückgreifen bzw. in die im Handapparat zum Kopieren aufgelegte Mitschrift von Eva-Maria Knoll zugreifen können.

Friday, November 25, 2005

ESSAY DIE ERSTE

Folgende kurze Abhandlung hat den Evolutionismus als Denkströmung in der Kultur- und Sozialanthropologie zum Thema. Ich werde versuchen grundlegende Denkmuster, wichtige Persönlichkeiten und Kritikpunkte in einem bündigen Überblick zu behandeln. Ob der Publikmachung im Internet und dem somit jedermann ermöglichten Zugriff auf dieses Dokument möchte ich darauf hinweisen, dass es sich dabei um eine Arbeit im Zuge eines Vorlesungstutoriums handelt, und ich als Verfasserin und Studentin keinen Anspruch auf vollkommene inhaltliche Fehlerlosigkeit und / oder thematische Vollständigkeit erhebe.

1. Begriffsklärung
[1][2]

Zeitlich lässt sich der (ethnologische) Evolutionismus am Anfang des Werdegangs der Kultur- und Sozialanthropologie zu einer global anerkannten sozialwissenschaftlichen Disziplin einordnen, welcher mit Ende des 19. Jahrhunderts zu datieren ist. Koloniale Eroberungen, ein gesteigertes Reiseverhalten und somit mehr und mehr Berichte über das Leben außerhalb Europas und erste Evolutionstheorien im Bereich der Biologie und Zoologie fungierten dabei als Geburtshelfer. Erste große Anthropologen dieser Zeit und Vertreter des klassischen Evolutionismus waren Lewis Henry Morgan, Edward Tylor und James Frazer, die im genaueren noch behandelt werden sollen.
Die Grundprinzipien des Evolutionismus in der Kultur- und Sozialanthropologie sind vergleichsweise simpel mit wenigen Worten zu erläutern: Ausgehend von der Annahme der gleichen geistigen Voraussetzungen und Fähigkeiten aller Menschen werden Gesellschaften bzw. Kulturen in ein lineares System ‚geordnet’, bei welchem die europäische, industrialisierte, nationalstaatlich organisierte Gesellschaft die ‚beste’ bzw. am weitesten entwickelte Gesellschaft darstellt und alle weiteren darunter absteigend je nach ‚Entwicklungsstufe’ angeordnet werden. Es wird erwartet, dass alle dabei unter der westlichen Industriegesellschaft zu liegen kommenden Kulturen im Laufe der Zeit ebenfalls – nach dem Durchlaufen der davor liegenden und dafür notwendigen Entwicklungsstufen und nach dem Grundmuster ‚vom Einfachen hin zum Komplexen’ – zu Industriegesellschaften der unseren vergleichbar werden.

Im Folgenden möchte ich auf die Anthropologen dieser Zeit und deren Arbeiten etwas genauer eingehen, mich danach der zeitgenössischen Kritik am Evolutionismus in der Kultur- und Sozialanthropologie zuwenden, um herauszuarbeiten, ob und welche seiner Inhalte auch heute noch tragbar sind und mit dem Versuch evolutionistisches Gedankengut im Alltag unserer Gegenwartsgesellschaft zu selektieren schließen.

2. Personen

2.1 Lewis Henry Morgan (1818 – 1881)
[3][4]

Morgan erlangte vor allem durch sein bis heute viel gelesenes Hauptwerk Ancient Society (dt. 1976, Die Urgesellschaft) und dessen Wichtigkeit für Karl Marx und Friedrich Engels große Bedeutung in der Kultur- und Sozialanthropologie. Er unterteilt darin die gesamte Menschheitsgeschichte (die von allen Gesellschaften durchlaufen wurde bzw. werden muss) in drei große Abschnitte, welche er als ‚Wildheit’, ‚Barbarei’ und zuletzt als ‚Zivilisation’ bezeichnet. Weiterentwicklung einer Gesellschaft ist laut Morgan dann möglich, wenn diese einen bezeichnenden Fortschritt auf technischem Niveau tätigt, welchem eine Entwicklung auf organisatorischer (politischer) Ebene folgt. Mit diesem Modell erklärt Morgan eine Entwicklung von einfachen Jäger- und Sammlerkulturen über Bodenbauernkulturen hin zu handwerklich und städtisch organisierten Gesellschaften, die – evolutionistisch gedacht – am oberen Ende der Entwicklungsleiter stehen.
Ein Kerngedanke Morgans war neben der technischen und organisatorischen Entwicklung einer Gesellschaft die seiner Meinung nach damit verbundenen verwandtschaftsorganisatorischen Entwicklungsstufen, die er in Ancient Society mit bei matrilinear organisierten Gesellschaften beginnend bis hin zu Gesellschaften mit – in seinen Augen hoch entwickelten - patrilinear orientierten Familien beschreibt.

2.2 Edward Tylor ( 1832 – 1917)
[5][6]

Oft wird Tylor als eigentlicher Begründer der Kultur- und Sozialanthropologie gesehen, er publizierte das erste klassische Werk dieser Disziplin (Primitive Culture) und hatte als erster einen Professorenstuhl für Anthropologie inne. Ebenso wie Morgan in den USA entwirft der Brite Tylor eine Stufenfolge für die Entwicklung von Gesellschaften, sein Hauptaugenmerk liegt dabei jedoch auf geistig-religiösen Merkmalen. Er beschreibt Gesellschaften als sich vom ‚Animismus’, der Idee einer geistig beseelten Natur, aus über den ‚Polytheismus’ hin zum letztendlichen ‚Monotheismus’ wandelnd. Ein wichtiges Thema in der Arbeit Tylors sind die so genannten ‚survivals’ – seiner Definition nach Überbleibsel aus einer früheren Entwicklungsstufe einer Gesellschaft, die sich bis in die Gegenwart hin retten konnten, und anhand derer Tylor versucht die Entwicklungsgeschichte einer Gesellschaft zu rekonstruieren.
Eine bis heute bleibende Errungenschaft Tylors ist sein ganzheitlicher und komplexer Kulturbegriff:
„Culture, or civilisation, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society” [7].

2.3 James George Frazer (1854 – 1941)
[8]

Ähnlich wie Tylor basiert auch die evolutionistische Stufenfolge des Schotten Frazers auf religiös-mythischen Grundlagen. In seinem Hauptwerk The Golden Bough, das auch außerhalb der Anthropologie weitreichende Anerkennung gefunden hat, unternimmt er den Versuch alle bekannten Mythen der Völker seiner Zeit zu sammeln. Aus der Analyse derselben entwickelt er die Begriffe ‚Magie’, ‚Totemismus’ und ‚Religion’ anhand derer er an die Ordnung und Kategorisierung der Kulturen geht.

3. Kritik am Evolutionismus

Ungleich anderer wissenschaftlicher Disziplinen (z.B. Evolutionstheorie in der Biologie) gilt der Evolutionismus in der Kultur- und Sozialanthropologie als überholt und widerlegt.
Schlägt man in der Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology unter ‚evolutionism’ nach, regt gleich der erste Satz des gefundenen Eintrags zum Nachdenken an:
„ The word ‚evolution’ describes the process of qualitative change.” [9]
Das ist es vor allem, was den Evolutionismus in der Ethnologie problematisch machte: die qualitative Komponente, mit der die Anthropologen dieser Denkrichtung Unterschiede zwischen und Wandlungen innerhalb einer Gesellschaft beurteilten.
Als nicht haltbar erwies sich außerdem die Annahme einer Unilinearität in der Entwicklung von Kulturen, außerdem wurde darauf hingewiesen, dass man sich bei der Erstellung ethnologisch evolutionistischer Theorien jeweils nur auf Teilaspekte von Kulturen konzentriert hatte, anhand derer Vergleiche und eine Hierarchisierung vorgenommen wurden. Auch der ungeschminkt eurozentristische Standpunkt der Evolutionisten geriet bald ins Kreuzfeuer der Kritik und ist heute undenkbar geworden. Und die Tatsache, dass die großen Anthropologen des Evolutionismus das waren, was man heute eher abwertend als ‚armchair anthropologists’ bezeichnet – also auf keine bzw. kaum eigene Feldforschungsergebnisse zurückgreifen konnten, sondern aus Berichten und Publikationen anderer arbeiteten – trägt natürlich nicht zur Erhärtung ihrer Schlüsse bei.
Jedoch ist nicht alles aus der Zeit des Evolutionismus stammende Gedankengut als nichtig abzutun, einiges hat bis heute seine Gültigkeit und Relevanz behalten:
- Jäger- und Sammlergesellschaften bilden eine weit verbreitete Grundlage aller Gesellschaften und es ist durchaus zutreffend, dass sich sesshafte Agrargesellschaften von diesem Fundament ausgehend entwickelt haben.
- Verwandtschaftliche Systeme bilden die Grundlage zu Zusammenhalt und Organisation in vielen nichtstaatlichen Gesellschaften – Verwandtschaftsforschung (Kinship Studies) ist daher bis heute ein zentrales Anliegen der Kultur- und Sozialanthropologie.
- Es kommt zu ersten klaren Definitionen das Forschungsfeld der Anthropologie betreffend (Kultur, staatenlose Gesellschaften der Gegenwart) und zur Bildung fachspezifischer Termini wie Animismus, Totemismus, Monotheismus, Matri- bzw. Patrilinearität etc. [10]


4. Evolutionismus heute?
[11] [12]

Spuren – mehr oder minder deutliche – von Evolutionismus und evolutionistischem Gedankengut lassen sich bei näherem Hinsehen viele finden, in unserem alltäglichen Lebensumfeld. Und nicht alle dieser Spuren sind als überholt oder irregeleitet anzusehen wie das mit evolutionistischen Strömungen in der Kultur- und Sozialanthropologie der Fall ist. Näher eingehen, weil es mir besonders am Herzen liegt, möchte ich aber auf das Feld der ‚Entwicklungshilfe’. Ich setzte diesen Ausdruck absichtlich unter Anführungszeichen, liegt doch schon in diesem einen Wort anthropologisch evolutionistisches Gedankengut in seiner Reinform. Salopp ausgedrückt: Andere Gesellschaften, nämlich die der (ebenso unglücklich benannten) Dritten Welt, befinden sich auf Entwicklungsstufen unter uns und bedürfen unserer Hilfe, unserer Anleitung um eine ebenso hohe, zivilisierte Entwicklungsstufe wie die unsere zu erreichen.
Zur Orientierung: Entwicklungshilfe – heute lieber etwas beschönigender als Entwicklungszusammenarbeit oder neutral als technische und finanzielle Zusammenarbeit bezeichnet – gibt es in vergleichbarer Form seit den 1950ern. Im Zuge der Dekolonialisierung, begannen sich Rückständigkeitstheoretiker laut zu machen, die Hilfe und Unterstützung forderten für eben diese ‚rückständigen’ Länder bzw. Gesellschaften. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte verschoben sich die Blickwinkel graduell, die Gründe um Entwicklungshilfe zu leisten waren / sind abhängig von den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Strömungen einer Zeit, ebenso die Kriterien an welchen ‚Rückständigkeit’ festgemacht wird.
Vor allem Anthropologen der Gegenwart bemühen sich heute um neue Sichtweisen auf dieses prekäre Thema, das alte evolutionistische Gedankengut von Entwicklung hin zu einer der unseren vergleichbaren Gesellschaft soll ausgemerzt werden. Es bedarf dabei jedoch mehr als einer verbalen Verschönerungsanstrengung, die Termini wie ‚Entwicklungshilfe’ oder ‚Dritte Welt’ durch neue, politisch korrekte(re) ersetzt, es muss ein großes Umdenken erfolgen, und ich nehme mich dabei selbst nicht aus, wenn ich behaupte, dass dieses Umdenken zuerst in den Reihen der Kultur- und Sozialanthropologen stattfinden muss, und anschließend von uns nach außen getragen werden kann und hoffentlich auch wird. Auch wir Anthropologen sind geprägt von der Gesellschaft, in der wir sozialisiert wurden und werden, wir leben und arbeiten nicht in einem abgeschlossenen System vorurteilsfreier und modernster, unbeflecktester Theorien – ich meine, es ist unsere Aufgabe uns dessen bewusst zu sein, und mit dem Hintergrund unserer individuellen und unserer wissenschaftlichen Sozialisierung (zu der das Wissen über evolutionistische Theorien eines Morgans oder Tylors ebenso gehören wie spätere strukturalistische oder kulturrelativistische Ansätze anderer) kritisch unser eigenes Denken und Handeln zu hinterfragen und darauf aufbauend uns als Wissenschaftler und Individuen in und die Wissenschaft der Kultur- und Sozialanthropologie per se ‚weiterzuentwickeln’.




[1] vgl. Onlinelexikon Wikipedia – http://de.wikipedia.org/wiki/Evolutionismus, 22.11.05, 18:14
[2] vgl. eigene Vorlesungsmitschrift, „Einführung in die Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie“, Dr. Andre Gingrich, Universität Wien, WS 05/06
[3] vgl. nichtautorisierte Vorlesungsmitschrift zur Vorlesung „Geschichte der Sozial- und Kulturanthropologie“, Dr. Andre Gingrich, WS 96/97, von Eva-Maria Knoll; Seite 6ff
[4] vgl. Kohl, Karl-Heinz: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung; C.H. Beck München, 1993; Seite 151f
[5] vgl. Vorlesungsmitschrift WS 96/97; Seite 6ff
[6] vgl. Barth, Frederik, et.al.: One Discipline, Four Ways. British, German, French and American Anthropology; University of Chicago Press, 2005; Seite 6ff
[7] Barth, Frederik, et.al.; 2005; Seite 7
[8] vgl. Vorlesungsmitschrift WS 96/97; Seite 8ff
[9] Barnard, Alan und Spencer, Jonathan (Hg.): Encycopedia of Social and Cultural Anthropology; Routledge, London, 2002; Seite 213
[10] vgl. Vorlesungsmitschrift WS 96/97; Seite 10f
[11] vgl. eigene Vorlesungsmitschrift zur Vorlesung „Einführung in die Anthropologie der Entwicklungszusammenarbeit“, Mag. Dr. Gabriele Rasuly-Paleczek, Universität Wien, WS 05/06
[12] vgl. Dieter Nohlen (Hg.): Lexikon Dritte Welt; Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1993; Seite206ff

Thursday, November 03, 2005

testreinstellung