Thursday, January 12, 2006

ESSAY DIE ZWEITE


In meinem zweiten als Teil dieses Vorlesungstutoriums verfassten Essay beschäftige ich mich auf wenigen Seiten mit den beiden anthropologischen Größen Marcel Mauss und Arnold van Gennep und deren bekanntesten Publikationen – ‚Die Gabe’ (Mauss) und ‚Übergangsriten’ (van Gennep). Ich werde versuchen die beiden ‚Protagonisten’ zeitlich und räumlich einzuordnen, sowie sie in ihrem sozialem Umfeld darzustellen und die Bedeutung ihrer Werke damals bis hin zur Gegenwart zu umreißen.

1. Wann und Wo?

Zeitlich sprechen wir hier von den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, also der Zeit kurz vor, während und knapp nach dem Ersten Weltkrieg. Räumlich bewegen wir uns im frankophonen Raum Europas – Marcel Mauss arbeitet zeitlebens in Paris [1]; Arnold van Gennep ist Belgier, in Deutschland geboren, aufgewachsen in Savoy, arbeitet in Frankreich und der französischen Schweiz [2]. Die französische Anthropologie entwickelt sich als eigenständiges Fach etwa zeitgleich mit anthropologischen Strömungen in Großbritannien, aber unter etwas anderen Voraussetzungen. So ist es in England oft die Regierung, die Anthropologen vereinnahmt, deren Dienste sie im Zuge einer fortschreitenden Kolonialisierung zu schätzen weiß. In Frankreich dagegen spielten Anthropologien nie eine solche Rolle – ein Umstand, der ihnen einerseits ein evtl. vielfältigeres Arbeitsfeld und freieres Forschen gewährleistete, andererseits aber staatliche Zuwendungen und Propaganda versagte [3].

2. Wer?

2.1 Marcel Mauss (1872 – 1950)

Mauss wird als der Sohn von Emile Durkheims älterer Schwester im französischen Epinal geboren. Die Beziehung zu seinem Onkel ist sein Leben lang sehr eng, privat sowie beruflich. Mauss arbeitet und lehrt ausschließlich in Paris – im Weltkrieg wird er an die Front berufen, wo er alle seine Freunde und wissenschaftlichen Kollegen verliert (und Frankreich – wie alle anderen am Krieg beteiligten Länder – viel an geistigem Potential). Mauss wird dargestellt als sehr intelligenter und enthusiastischer Wissenschaftler, der sich darauf versteht Ansätze und Ideen anderer aufzugreifen, zu vernetzen und weiterzuverarbeiten. So scheint es ihm ein Anliegen zu sein, den Nachlass seiner im Krieg gefallenen Zeitgenossen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ebenso stützt er sich in seinem Werk ‚Die Gabe’ auf Feldforschungen anderer oder bemüht sich um eine vertiefende Weitearbeit am Werk seines Onkels Durkheim.[4]
Robert Parkin charakterisiert Mauss folgendermaßen:
„His enthusiasm for his work and his sheer scholarship cannot be in doubt, and his knowledge was truly encyclopedic. Certainly there is an absence of system in his writings overall, though taken seperately each work is clear and coherent enough.” [5]
Angesichts dessen ist die Etablierung der Kultur- und Sozialanthropologie als eigenständige sozialwissenschaftliche Disziplin unter anderem Marcel Mauss und seinen Arbeiten zu verdanken [6].

2.2 Arnold van Gennep (1873 – 1957)

Van Gennep verdankt die Kultur- und Sozialanthropologie ein sehr reichhaltiges und interessantes Forschungsgebiet, nämlich das des Rituals. Arnold van Gennep wird im deutschen Ludwigsburg geboren und wächst nach der Scheidung seiner Eltern bei seiner Mutter in Savoy auf. Anders als Mauss ist er kein Lehrender (von einer kurzen Zeit in der Schweiz abgesehen – dort lehrte er in Neuchâtel von 1912 – 1915). Dank seiner zahlreichen Feldforschungen und einer offensichtlichen Sprachbegabung (er erlernte die wichtigsten Sprachen Europas und deren regionale Dialekte!) sind seine Dienste als Übersetzer sehr gefragt.
Van Genneps Zugang zur Anthropologie erfolgt über die weniger wissenschaftliche Folklore, von der aus er Brücken schlägt zu seiner anthropologischen Arbeit über das Ritual als universelle Institution – besonders konzentriert sich van Gennep auf Übergangsriten (rites de passage). [7]

2.3 Das geistige Umfeld

Die französische Anthropologie des frühen 20. Jahrhunderts ist unumstritten vor allem von der Figur des Emile Durkheim geprägt, somit erlaube ich mir hier auch einige Worte zu ihm zu verlieren. 1858 geboren gilt er als Revolutionär der europäischen Sozialwissenschaften, und die Kultur- und Sozialanthropologie ist nicht die einzige Disziplin, die Anspruch auf Durkheim erhebt – ebenso tut dies z.B. die Soziologie. Durkheim arbeitet in Anlehnung an das von Jean-Jaques Rousseau geprägte Konzept vom ‚Gesellschaftsvertrag’ und geht dabei der Frage nach, was es ist, das als Klebstoff zwischen einzelnen Individuen fungiert und diese so zu einer Gesellschaft mit innerem Zusammenhalt zusammenführt. Arbeitsteilung und damit gegenseitiges aufeinander Angewiesensein führt er dafür in stratifizierten Industriegesellschaften an, Religion sieht er als ausschlaggebend für das funktionierende Zusammenleben in wenig industrialisierten Ländern. Diesen Thesen mag man entgegenhalten oder nicht, unwidersprechlich macht Durkheim jedoch als erster deutlich, dass ein Anthropologe bei seiner wissenschaftlichen Arbeit immer seine eigene Kultur und gesellschaftliche Prägung mitdenken muss.[8]
Der anthropologische Kreis dieser Zeit wird gerne in die Schüler und Anhänger Durkeims sowie dessen Kritiker und bzw. Gegenspieler geteilt. In vorliegendem Fall ist Marcel Mauss natürlich klarerweise ersteren zuzurechnen, Arnold van Gennep hingegen wurde von Durkheim nie akzeptiert und hat diesen auch offen kritisiert.
Wie schon erwähnt verloren einige junge Anthropologen dieser Zeit ihr Leben im Ersten Weltkrieg – anzuführen sind davon vielleicht Robert Herz und Henri Hubert, deren Ansätze im Feld der Religion und Magie von Marcel Mauss später aufgegriffen und weitergeführt wurden [9] – auch in ‚Die Gabe’ verweist Mauss darauf [10].

3. Was?

3.1 Essai sur le don (Die Gabe)
[11]

Im Klappentext meines Exemplars von ‚Die Gabe’ befindet sich ein Zitat von Claude Lévi-Strauss (dem wohl bekanntesten und für die Kultur- und Sozialanthropologie der Gegenwart bedeutendsten Schüler Marcel Mauss’), das Mauss’ Werk als Arbeit
„die wie auf gut Glück amerikanische, indische, keltische, griechische und ozeanische Belege aufzugreifen scheint, immer gleichermaßen beweiskräftig. Kaum einer hat Die Gabe lesen können, ohne die Skala der Empfindungen zu durchlaufen, die Malebranche in Erinnerung an seine erste Descartes-Lektüre so gut beschrieben hat: ‚Unter Herzklopfen, bei brausendem Kopf erfasst den Geist eine noch undefinierbare, aber unabweisbare Gewissheit, bei einem für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis zugegen zu sein.’“ [12]
In diesem berühmten, 1925 veröffentlichten Essay führt Mauss seine Annahmen zur zentralen Frage der Arbeiten seines Onkels Durkheim nach gesellschaftlichem Zusammenhalt aus. Dabei stützt er sich auf Feldforschungen seiner nicht minder bis heute bedeutenden Kollegen Franz Boas und Bronislaw Malinowski. In Mauss’ Augen ist es – in archaischen Gesellschaften - eindeutig das Prinzip von Gabe und Gegengabe, dass Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen herstellt. Durch einen nicht auf materiellen (!) Gewinn ausgerichteten Geschenkeaustausch werden Verpflichtungen geschaffen, deren Einhaltung zu erneuter Verpflichtung führt und so eine dauerhafte Allianz zwischen zwei oder mehreren Parteien gewährleistet wird. Dabei unterscheidet Mauss bei jedem Prozess des Geschenketausch die Verpflichtung zu Geben, die Verpflichtung zu Nehmen und (hier beginnt der eigentliche Kreislauf) die Verpflichtung zu Erwidern. In seinem Werk beschreibt Mauss dazu ausführlich die Praktik des ‚Kula’, einem diffizilen Tauschsystem zwischen Bewohnern verschiedener Inseln des Trobriand-Archipels (basierend auf der Feldforschung Malinowskis) und vergleichend die Institution des ‚Potlatsch’ bei den Kwakiutl in Nordamerika (Feldforschung von Boas) – dabei geht es um die Demonstration von Macht und Status eines Häuptlings und seines Volkes, durch öffentliche ‚Vernichtungsorgien’ materieller Güter (nach dem Prinzip: ‚man kann es sich leisten…’). Nach der Darlegung dieser und anderer Praktiken verfasste Mauss noch ein Kapitel, in welchem er ein „Weiterleben dieser Prinzipien in den alten Rechts- und Wirtschaftsordnungen“ (=Kapitelüberschrift) auszumachen versucht – wieder ein Beweis für seine Fähigkeit Inhalte zu vernetzen und in übergreifenden Dimensionen zu denken.

3.2 Rites de Passage (Übergangsriten)

Van Genneps Meisterwerk erscheint im Jahr 1909 und ist seither präsent, viel zitiert und immer wieder als Referenz genannt. Kernthema des Buches sind Riten/Rituale, deren Universalität van Gennep aufzeigt und sie gleichzeitig als Forschungsfeld in der Kultur- und Sozialanthropologie etabliert. Anders als Mauss kann er auf eigene Feldforschungen zur Untermauerung seiner Thesen zurückgreifen. Rituale werden hier charakterisiert als soziale Phänomene, die jede Gesellschaft kennt um Krisenzeiten und außergewöhnlichen Vorkommnissen im Leben eines Menschen im gesellschaftlichen Rahmen zu begegnen und diese zu bewältigen. In allen Gesellschaften finden sich also determinierte Vorgehensweisen bei Ereignissen wie z.B. Geburt, Pubertät, Heirat, oder Tod. Grundlegend unterscheidet van Gennep bei Ritualen verschiedenster Gesellschaften drei Typen [13]: Rituale zum Anlass von Trennung oder Abschied, Rituale des Wechsels und Rituale zum Zweck der Wiedereingliederung. Gleichzeitig sieht er diese drei Typen auch als Struktur, die jedem einzelnen Ritual immanent ist. Es erfolgt demnach jedes Mal eine Phase der Trennung und des Ablösens vom Ist-Zustand, eine Phase des Übergangs und Wechsels und daraufhin eine Phase der Reintegration und Festsetzung eines neuen Ist-Zustandes – je nach Anlass eines Rituals ist die eine oder andere Phase ausgeprägter zu erkennen, van Gennep besteht jedoch auf stetiges Vorhandensein aller drei Phasen.
Van Genneps Arbeit wird vor allem vom Briten Victor Turner aufgegriffen, der bei den Azande in Afrika forscht und sich vor allem auf Initiationsrituale und dabei auf die Phase des Übergangs konzentriert. Für diesen heiklen Teil eines Rituals prägt er den Begriff der Liminalität (Grenzhaftigkeit) und beschreibt weiters das soziale Phänomen der Kommunitas – der Gruppe von Initianden, die gemeinsam die Phase der Liminalität durchleben und dadurch zu einem neuen und anhaltenden Zusammenhalt untereinander finden. [14]

4. Wie und Wozu?

Sowohl Marcel Mauss als auch Arnold van Gennep werden wie bereits mehrfach erwähnt bis heute als große Anthropologen gehandelt, die viel zur Etablierung unserer Disziplin beigetragen haben und Werke vorlegten, die Gültigkeit und Präsenz bis heute halten. Sie stehen am Beginn einer Phase des Aufschwungs der französischen Kultur- und Sozialanthropologie, die vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine Vorreiterrolle übernimmt. Mehr oder weniger geprägt und beeinflusst wurden beide sicher durch die Figur des Emile Durkheim, beide arbeiten zu Themen, die von Durkheim bereits angesprochen wurden. Dabei ist es klar, dass sich Mauss eher auf die Aussagen seines Onkels stützt und diese in der eigenen Arbeit vertiefend behandelt, van Gennep aber als Kritiker auftritt, der zwar zu ähnlichen bzw. gleichen Themen arbeitet, diese jedoch viel differenzierter und genauer ausführt und das Durkheim entgegenhält.
Van Genneps Arbeiten wohnt bereits ein unübersehbarer strukturalistischer Ansatz inne, vor allem Marcel Mauss ist es aber, der als Bindeglied in der französischen Anthropologie gesehen wird, ist er es doch, der die Arbeit Durkheims aufgreift und vertieft, und gleichzeitig später Lehrer des unbestritten großen Claude Lévi-Strauss ist – so ist die Brücke geschlagen zwischen funktionalistischen Ansätzen, die die teilweise von Durkheim vertreten werden hin zum Strukturalismus in seiner Reinform, wie er von Lévi-Strauss etabliert wird. [15]


Literaturverweise

[1] vgl. Barth, Frederik, et.al.: One Discipline, Four Ways. British, German, French and American Anthropology; University of Chicago Press, 2005:186
[2] vgl. Barth 2005:181
[3] vgl. nichtautorisierte Vorlesungsmitschrift zur Vorlesung „Geschichte der Sozial- und Kulturanthropologie“, André Gingrich, WS 96/97, von Eva-Maria Knoll; 45
[4] vgl. Barth 2005:186ff
[5] Barth 2005:187
[6] vgl. nichtautorisierte Vorlesungsmitschrift zur Vorlesung „Geschichte der Sozial- und Kulturanthropologie“, André Gingrich, WS 96/97, von Eva-Maria Knoll; 45
[7] vgl. Barth 2005:180f
[8] vgl. eigene Vorlesungsmitschrift, „Einführung in die Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie“, André Gingrich, WS 05/06
[9] vgl. Barth 2005:190ff
[10]Mauss, Marcel: Die Gabe, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1999:31
[11] Mauss, 1999
[12] Mauss, 1999:Klappentext
[13] vgl. nichtautorisierte Vorlesungsmitschrift zur Vorlesung „Geschichte der Sozial- und Kulturanthropologie“, André Gingrich, WS 96/97, von Eva-Maria Knoll; 50
[14] vgl. Barth 2005:181
[15] vgl. eigene Vorlesungsmitschrift, „Einführung in die Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie“, André Gingrich, WS 05/06


Anmerkung zu Essays 1 + 2: Da ich davon ausgehe, dass diese Arbeiten vor allem von TuroriumskollegInnen gelesen werden, habe ich es mir gestattet auch aus Vorlesungsmitschriften zu zitieren. Mir ist bewusst, dass dies keine ‚erlaubte’ Praktik bei wissenschaftlichen Arbeiten ist, hier jedoch gehe ich davon aus, dass meine KollegInnen auf eigene Vorlesungsmitschriften zum Vergleich zurückgreifen bzw. in die im Handapparat zum Kopieren aufgelegte Mitschrift von Eva-Maria Knoll zugreifen können.