Friday, November 25, 2005

ESSAY DIE ERSTE

Folgende kurze Abhandlung hat den Evolutionismus als Denkströmung in der Kultur- und Sozialanthropologie zum Thema. Ich werde versuchen grundlegende Denkmuster, wichtige Persönlichkeiten und Kritikpunkte in einem bündigen Überblick zu behandeln. Ob der Publikmachung im Internet und dem somit jedermann ermöglichten Zugriff auf dieses Dokument möchte ich darauf hinweisen, dass es sich dabei um eine Arbeit im Zuge eines Vorlesungstutoriums handelt, und ich als Verfasserin und Studentin keinen Anspruch auf vollkommene inhaltliche Fehlerlosigkeit und / oder thematische Vollständigkeit erhebe.

1. Begriffsklärung
[1][2]

Zeitlich lässt sich der (ethnologische) Evolutionismus am Anfang des Werdegangs der Kultur- und Sozialanthropologie zu einer global anerkannten sozialwissenschaftlichen Disziplin einordnen, welcher mit Ende des 19. Jahrhunderts zu datieren ist. Koloniale Eroberungen, ein gesteigertes Reiseverhalten und somit mehr und mehr Berichte über das Leben außerhalb Europas und erste Evolutionstheorien im Bereich der Biologie und Zoologie fungierten dabei als Geburtshelfer. Erste große Anthropologen dieser Zeit und Vertreter des klassischen Evolutionismus waren Lewis Henry Morgan, Edward Tylor und James Frazer, die im genaueren noch behandelt werden sollen.
Die Grundprinzipien des Evolutionismus in der Kultur- und Sozialanthropologie sind vergleichsweise simpel mit wenigen Worten zu erläutern: Ausgehend von der Annahme der gleichen geistigen Voraussetzungen und Fähigkeiten aller Menschen werden Gesellschaften bzw. Kulturen in ein lineares System ‚geordnet’, bei welchem die europäische, industrialisierte, nationalstaatlich organisierte Gesellschaft die ‚beste’ bzw. am weitesten entwickelte Gesellschaft darstellt und alle weiteren darunter absteigend je nach ‚Entwicklungsstufe’ angeordnet werden. Es wird erwartet, dass alle dabei unter der westlichen Industriegesellschaft zu liegen kommenden Kulturen im Laufe der Zeit ebenfalls – nach dem Durchlaufen der davor liegenden und dafür notwendigen Entwicklungsstufen und nach dem Grundmuster ‚vom Einfachen hin zum Komplexen’ – zu Industriegesellschaften der unseren vergleichbar werden.

Im Folgenden möchte ich auf die Anthropologen dieser Zeit und deren Arbeiten etwas genauer eingehen, mich danach der zeitgenössischen Kritik am Evolutionismus in der Kultur- und Sozialanthropologie zuwenden, um herauszuarbeiten, ob und welche seiner Inhalte auch heute noch tragbar sind und mit dem Versuch evolutionistisches Gedankengut im Alltag unserer Gegenwartsgesellschaft zu selektieren schließen.

2. Personen

2.1 Lewis Henry Morgan (1818 – 1881)
[3][4]

Morgan erlangte vor allem durch sein bis heute viel gelesenes Hauptwerk Ancient Society (dt. 1976, Die Urgesellschaft) und dessen Wichtigkeit für Karl Marx und Friedrich Engels große Bedeutung in der Kultur- und Sozialanthropologie. Er unterteilt darin die gesamte Menschheitsgeschichte (die von allen Gesellschaften durchlaufen wurde bzw. werden muss) in drei große Abschnitte, welche er als ‚Wildheit’, ‚Barbarei’ und zuletzt als ‚Zivilisation’ bezeichnet. Weiterentwicklung einer Gesellschaft ist laut Morgan dann möglich, wenn diese einen bezeichnenden Fortschritt auf technischem Niveau tätigt, welchem eine Entwicklung auf organisatorischer (politischer) Ebene folgt. Mit diesem Modell erklärt Morgan eine Entwicklung von einfachen Jäger- und Sammlerkulturen über Bodenbauernkulturen hin zu handwerklich und städtisch organisierten Gesellschaften, die – evolutionistisch gedacht – am oberen Ende der Entwicklungsleiter stehen.
Ein Kerngedanke Morgans war neben der technischen und organisatorischen Entwicklung einer Gesellschaft die seiner Meinung nach damit verbundenen verwandtschaftsorganisatorischen Entwicklungsstufen, die er in Ancient Society mit bei matrilinear organisierten Gesellschaften beginnend bis hin zu Gesellschaften mit – in seinen Augen hoch entwickelten - patrilinear orientierten Familien beschreibt.

2.2 Edward Tylor ( 1832 – 1917)
[5][6]

Oft wird Tylor als eigentlicher Begründer der Kultur- und Sozialanthropologie gesehen, er publizierte das erste klassische Werk dieser Disziplin (Primitive Culture) und hatte als erster einen Professorenstuhl für Anthropologie inne. Ebenso wie Morgan in den USA entwirft der Brite Tylor eine Stufenfolge für die Entwicklung von Gesellschaften, sein Hauptaugenmerk liegt dabei jedoch auf geistig-religiösen Merkmalen. Er beschreibt Gesellschaften als sich vom ‚Animismus’, der Idee einer geistig beseelten Natur, aus über den ‚Polytheismus’ hin zum letztendlichen ‚Monotheismus’ wandelnd. Ein wichtiges Thema in der Arbeit Tylors sind die so genannten ‚survivals’ – seiner Definition nach Überbleibsel aus einer früheren Entwicklungsstufe einer Gesellschaft, die sich bis in die Gegenwart hin retten konnten, und anhand derer Tylor versucht die Entwicklungsgeschichte einer Gesellschaft zu rekonstruieren.
Eine bis heute bleibende Errungenschaft Tylors ist sein ganzheitlicher und komplexer Kulturbegriff:
„Culture, or civilisation, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society” [7].

2.3 James George Frazer (1854 – 1941)
[8]

Ähnlich wie Tylor basiert auch die evolutionistische Stufenfolge des Schotten Frazers auf religiös-mythischen Grundlagen. In seinem Hauptwerk The Golden Bough, das auch außerhalb der Anthropologie weitreichende Anerkennung gefunden hat, unternimmt er den Versuch alle bekannten Mythen der Völker seiner Zeit zu sammeln. Aus der Analyse derselben entwickelt er die Begriffe ‚Magie’, ‚Totemismus’ und ‚Religion’ anhand derer er an die Ordnung und Kategorisierung der Kulturen geht.

3. Kritik am Evolutionismus

Ungleich anderer wissenschaftlicher Disziplinen (z.B. Evolutionstheorie in der Biologie) gilt der Evolutionismus in der Kultur- und Sozialanthropologie als überholt und widerlegt.
Schlägt man in der Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology unter ‚evolutionism’ nach, regt gleich der erste Satz des gefundenen Eintrags zum Nachdenken an:
„ The word ‚evolution’ describes the process of qualitative change.” [9]
Das ist es vor allem, was den Evolutionismus in der Ethnologie problematisch machte: die qualitative Komponente, mit der die Anthropologen dieser Denkrichtung Unterschiede zwischen und Wandlungen innerhalb einer Gesellschaft beurteilten.
Als nicht haltbar erwies sich außerdem die Annahme einer Unilinearität in der Entwicklung von Kulturen, außerdem wurde darauf hingewiesen, dass man sich bei der Erstellung ethnologisch evolutionistischer Theorien jeweils nur auf Teilaspekte von Kulturen konzentriert hatte, anhand derer Vergleiche und eine Hierarchisierung vorgenommen wurden. Auch der ungeschminkt eurozentristische Standpunkt der Evolutionisten geriet bald ins Kreuzfeuer der Kritik und ist heute undenkbar geworden. Und die Tatsache, dass die großen Anthropologen des Evolutionismus das waren, was man heute eher abwertend als ‚armchair anthropologists’ bezeichnet – also auf keine bzw. kaum eigene Feldforschungsergebnisse zurückgreifen konnten, sondern aus Berichten und Publikationen anderer arbeiteten – trägt natürlich nicht zur Erhärtung ihrer Schlüsse bei.
Jedoch ist nicht alles aus der Zeit des Evolutionismus stammende Gedankengut als nichtig abzutun, einiges hat bis heute seine Gültigkeit und Relevanz behalten:
- Jäger- und Sammlergesellschaften bilden eine weit verbreitete Grundlage aller Gesellschaften und es ist durchaus zutreffend, dass sich sesshafte Agrargesellschaften von diesem Fundament ausgehend entwickelt haben.
- Verwandtschaftliche Systeme bilden die Grundlage zu Zusammenhalt und Organisation in vielen nichtstaatlichen Gesellschaften – Verwandtschaftsforschung (Kinship Studies) ist daher bis heute ein zentrales Anliegen der Kultur- und Sozialanthropologie.
- Es kommt zu ersten klaren Definitionen das Forschungsfeld der Anthropologie betreffend (Kultur, staatenlose Gesellschaften der Gegenwart) und zur Bildung fachspezifischer Termini wie Animismus, Totemismus, Monotheismus, Matri- bzw. Patrilinearität etc. [10]


4. Evolutionismus heute?
[11] [12]

Spuren – mehr oder minder deutliche – von Evolutionismus und evolutionistischem Gedankengut lassen sich bei näherem Hinsehen viele finden, in unserem alltäglichen Lebensumfeld. Und nicht alle dieser Spuren sind als überholt oder irregeleitet anzusehen wie das mit evolutionistischen Strömungen in der Kultur- und Sozialanthropologie der Fall ist. Näher eingehen, weil es mir besonders am Herzen liegt, möchte ich aber auf das Feld der ‚Entwicklungshilfe’. Ich setzte diesen Ausdruck absichtlich unter Anführungszeichen, liegt doch schon in diesem einen Wort anthropologisch evolutionistisches Gedankengut in seiner Reinform. Salopp ausgedrückt: Andere Gesellschaften, nämlich die der (ebenso unglücklich benannten) Dritten Welt, befinden sich auf Entwicklungsstufen unter uns und bedürfen unserer Hilfe, unserer Anleitung um eine ebenso hohe, zivilisierte Entwicklungsstufe wie die unsere zu erreichen.
Zur Orientierung: Entwicklungshilfe – heute lieber etwas beschönigender als Entwicklungszusammenarbeit oder neutral als technische und finanzielle Zusammenarbeit bezeichnet – gibt es in vergleichbarer Form seit den 1950ern. Im Zuge der Dekolonialisierung, begannen sich Rückständigkeitstheoretiker laut zu machen, die Hilfe und Unterstützung forderten für eben diese ‚rückständigen’ Länder bzw. Gesellschaften. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte verschoben sich die Blickwinkel graduell, die Gründe um Entwicklungshilfe zu leisten waren / sind abhängig von den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Strömungen einer Zeit, ebenso die Kriterien an welchen ‚Rückständigkeit’ festgemacht wird.
Vor allem Anthropologen der Gegenwart bemühen sich heute um neue Sichtweisen auf dieses prekäre Thema, das alte evolutionistische Gedankengut von Entwicklung hin zu einer der unseren vergleichbaren Gesellschaft soll ausgemerzt werden. Es bedarf dabei jedoch mehr als einer verbalen Verschönerungsanstrengung, die Termini wie ‚Entwicklungshilfe’ oder ‚Dritte Welt’ durch neue, politisch korrekte(re) ersetzt, es muss ein großes Umdenken erfolgen, und ich nehme mich dabei selbst nicht aus, wenn ich behaupte, dass dieses Umdenken zuerst in den Reihen der Kultur- und Sozialanthropologen stattfinden muss, und anschließend von uns nach außen getragen werden kann und hoffentlich auch wird. Auch wir Anthropologen sind geprägt von der Gesellschaft, in der wir sozialisiert wurden und werden, wir leben und arbeiten nicht in einem abgeschlossenen System vorurteilsfreier und modernster, unbeflecktester Theorien – ich meine, es ist unsere Aufgabe uns dessen bewusst zu sein, und mit dem Hintergrund unserer individuellen und unserer wissenschaftlichen Sozialisierung (zu der das Wissen über evolutionistische Theorien eines Morgans oder Tylors ebenso gehören wie spätere strukturalistische oder kulturrelativistische Ansätze anderer) kritisch unser eigenes Denken und Handeln zu hinterfragen und darauf aufbauend uns als Wissenschaftler und Individuen in und die Wissenschaft der Kultur- und Sozialanthropologie per se ‚weiterzuentwickeln’.




[1] vgl. Onlinelexikon Wikipedia – http://de.wikipedia.org/wiki/Evolutionismus, 22.11.05, 18:14
[2] vgl. eigene Vorlesungsmitschrift, „Einführung in die Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie“, Dr. Andre Gingrich, Universität Wien, WS 05/06
[3] vgl. nichtautorisierte Vorlesungsmitschrift zur Vorlesung „Geschichte der Sozial- und Kulturanthropologie“, Dr. Andre Gingrich, WS 96/97, von Eva-Maria Knoll; Seite 6ff
[4] vgl. Kohl, Karl-Heinz: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung; C.H. Beck München, 1993; Seite 151f
[5] vgl. Vorlesungsmitschrift WS 96/97; Seite 6ff
[6] vgl. Barth, Frederik, et.al.: One Discipline, Four Ways. British, German, French and American Anthropology; University of Chicago Press, 2005; Seite 6ff
[7] Barth, Frederik, et.al.; 2005; Seite 7
[8] vgl. Vorlesungsmitschrift WS 96/97; Seite 8ff
[9] Barnard, Alan und Spencer, Jonathan (Hg.): Encycopedia of Social and Cultural Anthropology; Routledge, London, 2002; Seite 213
[10] vgl. Vorlesungsmitschrift WS 96/97; Seite 10f
[11] vgl. eigene Vorlesungsmitschrift zur Vorlesung „Einführung in die Anthropologie der Entwicklungszusammenarbeit“, Mag. Dr. Gabriele Rasuly-Paleczek, Universität Wien, WS 05/06
[12] vgl. Dieter Nohlen (Hg.): Lexikon Dritte Welt; Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1993; Seite206ff

2 Comments:

Blogger g. said...

deine ergänzung entlockt mir ein erstes frühmorgendliches grinsen ;) ... jaja, die frage, wovon man denn nun leben soll ist bis jetzt ungeklärt, lass es dich wissen wenn sich neue erkenntnisse einstellen. aber in der theorie klingts doch schön, oder?

11:23 PM  
Blogger Almuth said...

Hallo, habe gerade mit ziemlicher Bewunderung (tatsächlich ist mir die Kinnlade stellenweise ganz unauffällig runtergeklappt) deinen Essay gelesen und gebe dir besonders gern ein Feedback.

. Was mich am meisten beeidruckt hat, war neben der Vielschichtigkeit (du beleuchtest das Thema in sehr wenigen Worten von sehr vielen Seiten, was in deinem Fall nicht sehr nach Blabla klingt) vor allem die Kompaktheit. Deine kurzen Absätze über Morgan, Tylor und Fraser sind beeindruckend kurz UND erklärend.

. Deine Sprache gefällt mir auch sehr gut, ich finde sie persönlich und sympathisch, aber trotzdem sachlich. Gefällt mir. Ab und zu fand ich es sprachlich nicht so perfekt (könnte dir vielleicht zwei oder drei Beispiele nennen, eines wäre gleich am Anfang: "Zeitlich lässt sich der (ethnologische) Evolutionismus am Anfang des Werdegangs der Kultur- und Sozialanthropologie zu einer global anerkannten sozialwissenschaftlichen Disziplin einordnen, welcher mit Ende des 19. Jahrhunderts zu datieren ist." - Der Satz ist nicht falsch, aber trotz der Kürze nicht ganz leicht zu verstehen. Ich glaube, man könnte ihn aktiver schreiben, aber nimm das nicht zu streng, ist nur mein momentanes Empfinden gewesen.)

. Dann war ich einmal inhaltlich ein wenig irritiert: Du übersetzt "qualitative change" (aus der Encyclopedia) mit einer Art Produktqualität - so wie: "Dieser Besen hat eine hohe Qualität, er ist besser als der andere." Ich hätte "qualitativ" hier einfach als "im Wesen", als Gegensatz zu "quantitativ" verstanden. Würde mich wirklich interessieren, wie es gemeint war, gab es im Rest des Eintrags Hinweise, die dich auf diese Übersetzung gebracht haben?

So, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich finde deinen Essay spitze! Ich freue mich nur selbst, wenn sich jemand die Mühe macht, bei MIR anzumerken, was er nun *konkret* gut und was weniger gut fand - deshalb mache ich das bei anderen in der Regel auch. Nicht, weil ich mit Gift um mich spritzen will oder wie auch immer man Kritik verstehen kann.

11:51 AM  

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